Samstag, 9. Oktober 2010

Moral vor Vernunft

Es ist mal wieder an der Zeit, gegen all die Atheisten, Aufklärer und Wissenschaftsverehrer mit ihrer Vernunftgläubigkeit zu stänkern. Denn was ist das Heilmittel gegen Religion, Ideologie, Aberglaube? Klar, die Vernunft und ihr Destillat, die (Natur-)Wissenschaft. So sollten wir natürlich alle Wissenschaft und Vernunft in ihrer geistigen Reinheit unterstützen! Was dabei außen vor bleibt ist die Frage, was denn eigentlich "Vernunft" ist, was eine Überzeugung, eine Handlung, eine Theorie "vernünftig" macht?
Vielfach gibt es ja keine Diskussion, was vernünftig ist. Es ist vernünftig zu glauben, daß eins plus eins zwei ergibt, daß morgen die Sonne wieder aufgehen wird, und daß nichts eine bestimmte Eigenschaft gleichzeitig haben und nicht haben kann. Und dies alles nicht für vernünftig zu halten wäre völlig unvernünftig. Aber so verführerisch es auch sein mag, die Vernunft, da sie eine scheinbar so offensichtliche Angelegenheit ist, als nicht weiter reduzierbaren Grundbegriff vorauszusetzen - wenn man nur ein wenig weiter überlegt, stellt man fest, daß dieser Begriff keineswegs trivial ist. Wäre er es, vermutlich wären gar keine Forderungen nach seiner Unterstützung notwendig.
Wie sehr das, was man für offensichtlich und vernünftig hält, der Wandlung unterworfen ist, sieht man leicht bei einem Blick in die Vergangenheit. Ganze philosophische Theorien, die zu ihrer Zeit völlig vernünftig erschienen, sind mit der Zeit in Verruf gekommen. Aber selbst in den ganz fundamentalen Begriffen des Denkens ist der Mensch schon auf gefährliche Untiefen gestoßen. Nehmen wir als Beispiel die Philosphie der Mathematik und die Logik. Eine "Menge" war hier bis zum Jahre 1903 schlicht eine "Zusammenfassung von Elementen unseres Denkens zu einem neuen Element unseres Denkens", oder sowas ähnliches. Diese einfache und einleuchtende Definition erschien vernünftig. Dann entdeckten Zermelo und Russell ein Problem, die "Russelsche Antinomie": Wenn man "Elemente unseres Denkens" so einfach zu neuen Elementen kombinieren kann, dann kann man wohl auch alle Mengen, die sich selbst nicht enthalten, zu einer neuen Menge zusammenfassen. Enthält die Menge aller Mengen, die sich selbst nicht enthalten, sich selbst? Angenommen, sie tut es nicht. Dann ist sie eine Menge, die sich selbst nicht enthält, und somit müsste sie sich selbst enthalten. Angenommen, die enthält sich. Wenn sie sich selbst nicht enthält, dann muß sie sich selbst enthalten. Offensichtlich ist also die scheinbar vernünftige Definition einer Menge widersprüchlich und muß verworfen werden. Zur Lösung dieses Problems gibt es verschiedene Vorschläge, die alle darauf hinaus laufen, die zulässigen Zusammenfassungen von "Elementen unseres Denkens" einzugrenzen. Auf diese Weise wird man zwar die Antinomie los, aber direkt einleuchtend sind die Alternativen dann nicht mehr. Die Vernunft auf direkt Einleuchtendes zu gründen ist also ein unsinniges Unterfangen.
Beim bisher Gesagten ging es um rein gedankliche Probleme . Aber auch wenn man die Welt um uns herum betrachtet, findet man Probleme mit dem, was "vernünftig" ist. Die moderne Physik ist da ein offensichtliches Beispiel. Kein Zweifel, hätte man die Quantentheorie oder Relativitätstheorie einem Wissenschaftler vor zwei- oder dreihundert Jahren gezeigt, er hätte sie für völlig unvernünftig gehalten. Von der mathematischen Formulierung hätte man ihn vieleicht noch überzeugen können. Aber zu behaupten, daß die Natur sich wirklich so merkwürdig verhalten sollte? Immanuel Kant hielt die dreidimensionale, euklidische Struktur der Raumes noch für eine offensichtliche Wahrheit, die man sich gar nicht anders denken könne ("Kritik der reinen Vernunft").
Bleibt noch die Trennung zwischen der rein "geistigen" Welt der Logik und der Welt der Erfahrung, in der es Aussagen wie die über die Struktur des Raumes gibt. Das die Annahme einer strikten Trennung zwischen beiden Bereichen eine Illusion ist, hat Quine 1951 bereits gezeigt ("Two Dogmas of Empiricism").

Die Vorstellung, es gäbe so etwas wie eine selbstständige, unabhängig von allem Andern existierende Vernunft, ist also unsinnig. Was immer man mit Vernunft meint, ist eng mit unserem Vorstellungsvermögen und unserer Erfahrung mit der Welt verwoben. Wenn man den Begriff der "Vernunft" schon nicht klar und universal definieren kann, dann bleibt als Ausweg noch der oft vorgeschlagene Pragmatismus. Vernünftig ist demnach, was gut funktioniert und weiter trägt. Allein, um zu entscheiden, was pragmatisch geboten ist, muß erst einmal ein Ziel vorgegeben sein, auf das hin die Tätigkeit ausgrichtet werden soll. Die Methoden der Naturwissenschaften sind nur insofern unter pragmatischen Gesichtspunkten vernünftig, als daß es darum geht, die Welt auf "mechanische" Weise zu verstehen oder die Natur nutzbar zu machen. Dieses Ziel folgt aber nicht aus der naturwissenachaftlichen Forschung selber.
Vor der Verunft steht also immer erst eine Zielauswahl, ein sollens-Satz. Rechnet man solche sollens-Sätze im weitesten Sinne zur Ehik, dann kommt vor der Vernunft die Ethik. Die Ethik sucht sich ihre Vernunft (Soviel noch zum Utilitarismus).
Religiöse Menschen haben nun, so scheint es mir, kein Problem damit, einzugestehen, daß ihre Vernunft aus ihren ethischen Grundsätzen folgt. Es bleibt nur die Frage, woher die leidenschaftlichen Vertreter der Vernunft die Überzeugung nehmen, daß gerade ihre Sichtweise auf die Welt die einzig wahre und "ideologiefreie" ist?

1 Kommentar:

  1. Alles in allem ein vernünftiger Artikel, solange Kritik an der Vernunft nicht zur Verherrlichung der Unvernunft führt.

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