Sonntag, 8. März 2015

Vor langer Zeit, als wäre es gestern

Vor langer Zeit, als Bahn und Post noch ein "Bundes-" davor hatten und das World Wide Web noch aus der Fernleihe der Stadtbibliothek bestand, hatte ich einen Lehrer, Deutsch und Geschichte. Sein schon an Obsession grenzendes Lieblingsthema war der Machtverlust der Merowinger an die Karolinger, so um 751 oder so. Diese historische Entwicklung schien eine der tragenden Streben seines bildungsbürgerlichen Selbstverständnisses zu sein und gefühlt ein Schulhalbjahr lang ging es eigentlich nur um die Erzählung, wie die Merowingerkönige ihre Macht an ihre eigenen Verwalter verloren, wie sie aber dennoch im Amt blieben als reines Symbol der rechtmäßigen Macht. So lange, bis Pippin irgendwann genug davon hatte, sich einen Alibikönig zur Wahrung des Scheins von Rechtmäßigkeit zu halten und den letzten Merowinger, Childerich III, abservierte und sich selbst auch formal zum König salben ließ.
Nun fielen die Ausführungen dieses Lehrers in einen Lebensabschnitt, in dem der Heranwachsende sein Hauptaugenmerk eher auf andere Fragestellungen zu richten pflegt. Es war das Alter, in dem sich der Schüler darüber klar zu werden beginnt, daß ein Mann zu sein mehr bedeuten könnte, als seinen Namen in den Schnee zu pinkeln. In dem er in mit hochrotem Kopf am Bahnhofskiosk gekauften Heftchen der Frage nachgeht, ob sich Mädchen womöglich in mehr als nur der Frisur von Jungs zu unterscheiden pflegen. Kurz, es war eine Zeit, in dem der Zögling sich schwertut, den Merowingern die ihnen gebührende Aufmerksamkeit zuzugestehen. Trotzdem ist, vielleicht nur durch die exzessive Wiederholung, etwas von Merowingern und Karolingern bei mir hängen belieben, und das ist gar nicht so schlecht, denn so fällt einem Jahrzehnte später auf, daß sich die Geschichte doch wiederholt.

Die Rolle der Merowingerkönige als offizieller Träger der weltlichen Macht ist über viele Umwege auf das Volk übergegangen. Doch scheint das Gefühl, nicht mehr in einer echten Demokratie zu leben, recht weit verbreitet. So sollen - Achtung, aktuelle Studie! - 60% der Deutschen der Ansicht sein, die Wirtschaft habe bei politischen Entscheidungen mehr Gewicht als der Wähler [1]. Wobei jemand, der an diesem Zustand etwas zu ändern wünscht, für die Autoren dieser Studie automatisch in die Nähe des Extremismus rückt.
Daß die 60% mit ihrer Vorstellung von der Demokratie übergeordneten Wirtschaft völlig richtig liegen, blitzt manchmal in einigen wenigen ehrlichen Worten hervor. Etwa dann, wenn Kanzlerin Merkel feststellt: "insofern werden wir Wege finden, wie die parlamentarische Mitbestimmung so gestaltet wird, dass sie trotzdem auch marktkonform ist. [2]". Oder wenn ein Neoliberaler wie Rainer Hank in der FAZ erklärt, der Markt müsse die demokratische Mehrheit vor sich selbst schützen: "Freihandel soll verhindern, dass Demokratien die Allgemeinheit schädigenden Blödsinn beschließen [3]."
Daß die demokratische Wahl bereits nicht mehr ist als eine reine Symbolhandlung, wird anhand der Bundestagswahl 2013 offensichtlich. Die Regierungskoalition aus CDU/CSU und SPD verfügt nach der Wahl über 504 von 631 Sitzen im Deutschen Bundestag - also 79.9% der Sitze im Parlament. Laut dem Endergebnis der Wahl [4] waren 61 946 900 Bürger wahlberechtigt. Auf CDU, CSU und SPD entfielen zusammengerechnet 29 416 661 Zweitstimmen - das sind 47.5% der Zweitstimmen aller Wahlberechtigten. Nun liegt in einem demokratischen Verfahren, das es ermöglicht, 47.5% Zustimmung unter den Wahlberechtigten in eine 79.9%ige Mehrheit im Parlament umzuwandeln, ganz offensichtlich etwas sehr im Argen. (Dabei spielt es eigentlich keine Rolle, wie genau dies möglich wird. Möglich ist es, weil 17 636 975 nicht abgegebene Stimmen, 583 069 ungültige Stimmen und 6 859 439 Stimmen, die an Parteien gingen, die es nicht über die 5%-Hürde geschafft haben, komplett unter den Tisch fallen gelassen werden.).
Wäre Demokratie mehr als ein hohles Ritual, die Bundestagswahl 2013 hätte ein Weckruf sein müssen! Diskussionen hätten entbrennen müssen wie das Wahlverfahren umgehend zu ändern sei, um die Entscheidung des Wahlvolks im Parlament besser abzubilden, Reformen hätten in Gang kommen müssen. Nichts ist passiert. Offensichtlich ist es schlichtweg irrelevant, inwieweit die Sitzverteilung im Parlament die Mehrheitsentscheidung der Bevölkerung widerspiegelt. Relevant ist, daß eine Wahl abgehalten wurde, daß diese Wahl den einmal für demokratisch befundenen Kriterien genügte, und daß somit die neue Regierung das Label "Demokratisch Legitimiert" tragen kann. Demokratie ist ein Etikett, nicht das Wesen der Staatsform in Deutschland. Demokratie ist ein Merowinger, der seinen Verwaltern als Legitimation dient, während diese die Macht ausüben. So lange, bis irgendwann irgendwer keine Lust mehr haben wird, sich um des Anscheins demokratischer Legitimation willen ein Alibiparlament zu halten, und sich selbst auch formal zum König wird salben lassen. Ein bisschen Geschrei wird es dann noch geben, zu verlieren wird dann aber schon nichts mehr sein.

3 Kommentare:

  1. Die Katze aus dem Sack8. März 2015 um 20:09

    Je mehr ich mich mit Historischem beschäftigte, desto langweiliger erschien mir die zukünftige Gegenwart. Das ist heute auch noch so.

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  2. Spitze!
    Ich habe verlinkt.
    http://matthiasseifert.posthaven.com/der-machtverlust-der-merowinger-an-die-karolinger-so-um-751-oder-so-und-die-bundestagswahl-2013-die-wahrheit-uber-die-wahrheit

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  3. Die romantische Vorstellung, das Volk wäre der Souverän der Staatsgewalt, ist nichts als Schimäre, das Prinzip der Volkssouveränität lediglich ein falsches Alibi. Der Glaube, die demokratisch gewählten Volksvertreter würden Volkes Willen vertreten, ist vergleichbar naiv wie der des Hahns, der morgens kräht und meint die Sonne ginge seinetwegen auf.

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